Wenn das „Warum“ stirbt, verliert die Organisation ihre Seele
Strategien ändern sich. Märkte schwanken. Tools kommen und gehen. Was bleibt, wenn vieles in Bewegung ist? Der Purpose: das Warum.
Organisationen suchen nach Orientierung. Sie investieren in Strategiepapiere, Change-Prozesse und neue Tools. Doch die Frage, die am Anfang stehen sollte, wird oft übergangen: Warum gibt es uns eigentlich?
Simon Sinek hat diesen Gedanken im Golden Circle präzise beschrieben. Der Kern lautet: Menschen kaufen nicht, was du tust, sondern warum du es tust. Der Erfolg einer Organisation hängt also weniger an Produkten und Prozessen als an ihrer Fähigkeit, Sinn zu stiften. Besonders in unsicheren Zeiten wirkt Purpose wie ein Anker im Sturm. Er hilft, Entscheidungen zu treffen, wenn mehrere Optionen möglich sind. Er gibt Orientierung, wenn Führungskräfte und Mitarbeitende unter Druck stehen. Und er beantwortet die zentrale Frage: Wofür setzen wir unsere Energie ein?

Der Golden Circle – vom Warum zum Was
Der Golden Circle ist ein einfaches, aber tiefgehendes Modell. Er besteht aus drei Kreisen:
- Im innersten Kreis steht das Warum. Es beschreibt den Sinn, die Überzeugung, das tiefere Anliegen.
- Darum liegt das Wie. Es meint den Weg, also Prinzipien, Werte und Vorgehensweisen.
- Den äußeren Kreis bildet das Was. Er steht für Produkte, Dienstleistungen oder konkrete Ergebnisse.
Viele Organisationen beginnen beim Äußeren. Sie definieren, was sie tun, und erklären dann, wie sie es umsetzen. Das Warum bleibt oft vage oder wird in wohlklingende Sätze verpackt, die keine echte Substanz haben.
Nach Sinek führt echter Erfolg nur in umgekehrter Reihenfolge: vom Warum nach außen. Wer das innere Anliegen klar benennen kann, gewinnt Vertrauen. Erst danach entfalten das Wie und das Was ihre Wirkung.
Apple ist ein klassisches Beispiel. Das Unternehmen verkauft nicht einfach Computer und Smartphones. Es beginnt beim Warum: Apple will den Status quo herausfordern und Menschen befähigen, anders zu denken. Das „Wie“ sind Produkte, die intuitiv, benutzerfreundlich und ästhetisch sind. Das „Was“ sind iPhones, Macs oder iPads. Diese Reihenfolge macht aus Kund:innen nicht nur Käufer, sondern Anhänger.
Viele Technologieunternehmen dagegen beginnen beim „Was“. Sie erklären, welche Funktionen ihre Produkte haben und wie sie produziert werden. Das „Warum“ bleibt unklar. Ihre Kommunikation wirkt austauschbar, ihre Marke bleibt blass. Der Unterschied zeigt, wie mächtig der Golden Circle ist. Unternehmen, die vom „Warum“ ausgehen, sprechen das limbische System im Gehirn an, das für Vertrauen und Entscheidungen zuständig ist. Unternehmen, die beim „Was“ beginnen, bleiben auf der rationalen Ebene stecken.
Warum es so schwer ist, das Warum zu finden
So einleuchtend das Modell klingt, so schwer ist es in der Praxis umzusetzen. Ein Grund liegt im Erfolg selbst. Organisationen, die wachsen, verlieren leicht den Bezug zu ihrem Ursprung. Sinek beschreibt, dass Wachstum und Erfolg paradoxerweise dazu führen können, dass das Warum verschwindet. Unternehmen jagen Zahlen, Marktanteilen und kurzfristigen Erfolgen hinterher und vergessen, warum sie einmal gestartet sind.
Das Warum liegt nicht in den Oberflächen von Tätigkeiten, sondern in den tieferen Schichten unserer Überzeugungen. Es verlangt mehr als einen Workshop und eine kreative Session. Es fordert eine ehrliche Auseinandersetzung mit Werten und Motiven. Fragen wie: Wofür stehe ich. Woran glaube ich. Was treibt uns an, jenseits von Umsatz und Gewinn.
Diese Fragen sind schwer, weil sie keine schnellen Antworten erlauben. Sie fordern Reflexion, manchmal auch das Eingeständnis, dass bisherige Entscheidungen nicht zum Kern passen. Und sie machen sichtbar, dass mancher Erfolg oberflächlich war. Viele Organisationen verwechseln Leistung mit Sinn. Sie sammeln Kennzahlen und Auszeichnungen. Doch Erfolg ist nur eine Momentaufnahme. Das Warum ist das, was bleibt, wenn kurzfristige Erfolge verblassen.
Auch für Individuen ist es schwierig. Mitarbeitende haben gelernt, Aufgaben abzuarbeiten. Die Frage „Warum mache ich das?“ wird oft als Störung empfunden. In Kulturen, in denen Geschwindigkeit und Output zählen, fehlt Raum für Sinnfragen. Sinek beschreibt, dass viele Organisationen an einem Wendepunkt stehen: Solange das Warum klar bleibt, inspiriert es Mitarbeitende und Kunden. Sobald es verloren geht, kippt die Balance. Dann regieren Zahlen, Prozesse und kurzfristige Erfolge und die Organisation verliert ihre Seele.
Die Falle der Überlastung
Eine Erhebung von McKinsey zeigt, dass 70 Prozent aller strategischen Initiativen scheitern oder ihre Ziele verfehlen. Nicht, weil die Fähigkeiten fehlen, sondern weil Organisationen zu viele Projekte gleichzeitig verfolgen. Digitalisierung, Nachhaltigkeit, Employer Branding, Vertriebsausbau, ISO-Zertifizierung – alles parallel, alles angeblich mit hoher Priorität.
Das Ergebnis ist paradox. Statt Fortschritt entsteht Stagnation. Maßnahmenlisten wachsen, aber die Umsetzung stockt. Führungskräfte verlieren den Überblick. Mitarbeitende erleben Überlastung und fragen sich, wofür sie ihre Energie einsetzen.
In solchen Situationen wird Purpose zum Filter. Er trennt, was wirklich relevant ist, von dem, was nur Aktionismus ist.
Ein Maschinenbauunternehmen in Baden-Württemberg zog 2022 die Konsequenz: Alle Projekte, die nicht zu den zwei wichtigsten Jahreszielen passten, wurden gestoppt. Die Umsetzungsgeschwindigkeit verdreifachte sich, der Krankenstand sank, die EBIT-Marge stieg. Der Unterschied war spürbar. Menschen wussten wieder, woran sie arbeiten und woran nicht.
Das Warum im Alltag
Purpose entfaltet seine Kraft nicht nur in Strategiepapiere. Er wird besonders dann sichtbar, wenn Menschen im Alltag Entscheidungen treffen.
Ein Beispiel: Ein Team diskutiert drei Stunden lang Deadlines, Budgets und Aufgaben. Am Ende bleibt unklar, was das Ziel ist. Erst als jemand die Frage stellt „Warum machen wir das überhaupt?“ verändert sich die Perspektive. Unwichtige Punkte verschwinden, die relevanten rücken nach vorn.
Das Warum wirkt wie ein Kompass. Es spart Zeit, verhindert Missverständnisse und bündelt Energie. Es macht aus einer To-do-Liste mehr als Beschäftigungstherapie – es verknüpft Arbeit mit Sinn.
Wofür das Warum gut ist
Ein klares Warum hat drei zentrale Wirkungen:
- Orientierung: Es gibt eine Richtung vor, wenn Märkte schwanken oder Unsicherheit herrscht.
- Verbindlichkeit: Es schafft einen Maßstab, an dem Entscheidungen ausgerichtet werden können.
- Sinn: Es stiftet Bedeutung, die über Kennzahlen hinausgeht und Menschen motiviert.
Damit wird das Warum zu mehr als einer schönen Formulierung. Es ist ein Anker, der Organisationen und Menschen hilft, Kurs zu halten.
Fazit: Weniger tun, mehr Werte
Purpose ist kein wohlklingender Satz im Leitbild. Er ist der Maßstab, an dem sich Unternehmen und Menschen gleichermaßen orientieren können. Dort, wo er fehlt, füllen operative Hektik und leere Aktivitäten das Vakuum. Dort, wo er spürbar ist, entsteht Klarheit über Prioritäten und Entscheidungen gewinnen an Tiefe.
Es geht nicht darum, noch mehr Initiativen zu starten oder jede neue Management-Mode mitzunehmen. Es geht darum, zu erkennen, welche Vorhaben wirklich zur Identität passen und welche nicht. Diese Unterscheidung verlangt Mut, denn sie bedeutet auch, manches bewusst zu beenden.
Wer den Kern seiner Motivation kennt und verschwendet weniger Energie an Nebenschauplätze. In dieser Fokussierung liegt Stärke: weniger zerstreute Aktivität, dafür mehr Verbindlichkeit und ein klarer innerer Kompass.
Am Ende geht es um Substanz. Purpose verleiht Handlungen Bedeutung, macht Arbeit anschlussfähig an Werte und gibt Menschen das Gefühl, Teil von etwas Echtem zu sein. Und genau darin liegt die eigentliche Kraft: nicht mehr zu wollen, sondern das Richtige zu wollen.
Zum Weiterdenken
Kennst du dein Warum?
Fragen für dich persönlich:
- Kenne ich mein eigenes Warum oder nur meine Aufgabenliste?
- Was gibt mir Energie und was raubt sie mir?
- Welche Tätigkeiten haben für mich Sinn, auch wenn sie anstrengend sind?
- Welche Entscheidungen, Projekte oder Aufgaben würden in deinem Alltag wegfallen, wenn du sie ehrlich an deinem Warum misst?
Fragen für Teams und Organisationen:
- Ist unser Purpose klar formuliert und verständlich für alle?
- Nutzen wir ihn als Filter für Projekte und Entscheidungen?
- Haben wir den Mut, Projekte zu stoppen, die nicht passen?